Der südamerikanische Sänger, der die Opernwelt einem neuen Publikum eröffnet

Die Kunst der männlichen Sopranstimme feiert ein Comeback. Der letzte offizielle Kastrat (ein Sänger, der vor der Pubertät einer Kastration unterzogen wird) trat 1913 in den Ruhestand. Seitdem wurde Sopran hauptsächlich von Frauen gesungen. Doch jetzt haben sie wieder männliche Konkurrenz: in Gestalt des 29 Jahre alten Opernsängers Samuel Mariño. Er stammt aus Venezuela und lebt jetzt in Berlin. Durch die Veröffentlichung seines Debüt-Soloalbums Sopranista im vergangenen Jahr und die kürzliche Tournee mit dem Australian Brandenburg Orchestra hat er hohe Wellen geschlagen. Doch das war nicht immer so. 

Seine Kindheit in Caracas ist von Erinnerungen an gnadenloses Mobbing aufgrund seiner hohen Stimme und Homosexualität getrübt. So sehr, dass er Venezuela nicht mehr als seine Heimat betrachtet. „Ich habe mich geschämt, mit meinen Eltern darüber zu reden. Ich habe [in der Schule] immer gesagt, ich sei krank, und mein Vater kam und holte mich ab. Aber in Wirklichkeit war ich gar nicht krank, ich konnte es nur einfach nicht ertragen, [dort] zu sein“, erzählt er über Zoom aus seinem Berliner Apartment. „Musik hat mir sehr geholfen. Ich habe in meinem Zimmer gesessen und Popmusik gehört, das brachte mich zum Lächeln.“

Als er mit 13 nur halb in den Stimmbruch kam, erklärte ihm sein Arzt, er könne dies entweder durch einen chirurgischen Eingriff beheben lassen oder eine Karriere in der Oper in Erwägung ziehen. Mit Unterstützung seiner Mutter entschied sich Mariño für Letzteres. Er studierte Klavier und Gesang am Nationalkonservatorium in Caracas und führte Opern gemeinsam mit dem Camerata Barroca auf, wo er mit renommierten Dirigenten wie Gustavo Dudamel und Theodore Kuchar zusammenarbeitete. Das entfachte seine Leidenschaft für das Barockrepertoire und führte ihn nach Europa. 

Der aufstrebende Sänger verließ Venezuela, um sein Musikstudium am Pariser Konservatorium fortzusetzen, unter persönlicher Betreuung durch die US-amerikanische Sopranistin Barbara Bonney, wo er sich der neuen Herausforderung stellte, die europäische Opernelite für sich zu gewinnen. „Die Leute haben oft vorschnell ein Urteil über mich gefällt, noch bevor ich den Mund aufmachen konnte“, sagt er. „Sie sehen, wie ich mich kleide, und denken deshalb, dass ich schlecht performen werde; die Opernwelt ist auch ziemlich weiß beziehungsweise europäisch und damit recht kompliziert.“

Der gewagte Kleidungsstil von Mariño hat nicht nur etwas mit Ästhetik zu tun; seiner Meinung nach übermittelt er damit eine persönliche Message – die der Befreiung. „Das ist politisch, also investiere ich eine Menge Zeit in das Entwerfen meiner Kleidung, um Freiheit zu repräsentieren … [und] meine Güte, ein Rock ist einfach so bequem zu tragen“, fügt er lachend hinzu. 

Mariños Liebe für Opern ist unbestreitbar, aber er ist sich auch bewusst, dass es Änderungen braucht, damit seine geliebte Kunstform auch in der heutigen modernen Zeit ihre Bedeutung behält. Künstler*innen wie er tragen dazu bei, die Opernwelt auch für jüngere Generationen attraktiver zu machen. Gus Christie, Aufsichtsratsvorsitzender des britischen Glyndebourne Opera House, glaubt: „Wir brauchen gute Verfechter*innen und Kommunikator*innen. Es gibt die Oper seit Hunderten von Jahren, und es gibt eine Menge Vorurteile und falsche Vorstellungen [davon] … Es ist unglaublich, wie viele Menschen, die zuerst kein besonderes Interesse daran hatten, von der Musik einfach umgehauen werden. Je mehr Persönlichkeiten also die Werbetrommel rühren, desto besser.“

Der Sopran will sich nicht in Kategorien pressen lassen und hat Träume, neue Genres zu erkunden – Mariño ist ein erklärter Liebhaber von Popmusik und möchte mit seinem klassischen Stil experimentieren. Seine Hoffnung ist, mehr Menschen mit der Botschaft der furchtlosen Emanzipation zu erreichen: „Ich möchte andere genauso befreien, wie meine Musik mich befreit hat.“ 

Pia Brynteson ist Redaktionsassistentin bei Service95.

Kreative Leitung: Pia Brynteson Fotografie: Dominik Slowik Assistenz Fotografie: Cult Chen Styling: Caitlin Jones Make-up: Tina Khatri Design: Meerim Mamatova